Türkische Kulturdiplomatie in Montenegro

Türkische Kulturdiplomatie in Montenegro:

Wir, die Teilnehmer des Workshops „Discursive inclusion and exclusion of Muslims in the Balkans“ (9.-11.7.2018), haben am zweiten Tag unseres Workshops eine Exkursion in die nahegelegene Küstenstadt Ulcinj/Ulqin unternommen (im folgenden Ulcinj). In Ulcinj haben wir mit Vertretern der lokalen Verwaltung, der Islamischen Gemeinschaft, des Mediensektors und von Nichtregierungsorganisationen gesprochen, wir haben uns in den montenegrinischen Medien umgesehen und eigene Beobachtungen bei unseren Spaziergängen durch die Stadt gemacht. Da ich mich in meiner Dissertation mit Kulturdiplomatie zwischen Bosnien und der Türkei beschäftige, habe ich für diesen Beitrag besonders darauf geachtet, wie die türkische Kulturpolitik im Stadtbild Ulcinjs und in der weiteren Öffentlichkeit repräsentiert ist.

Ulcinj ist die südlichste Küstenstadt Montenegros und wird nur durch den „großen Strand“ — den längsten Sandstrand Montenegros — von der albanischen Grenze getrennt. So ist die Stadt einerseits bekannt als regionaler und überregionaler Tourismusmagnet, was auch im Stadtzentrum mit seinem überfüllten „kleinen Strand“ zu spüren ist. Andererseits gilt Ulcinj auch als die „albanischste“ Stadt Montenegros: nicht nur die Bevölkerungsmehrheit ist albanisch, sondern auch die meisten Touristen kommen aus Kosovo und Makedonien und sprechen albanisch. Die Mehrheit der Albaner Ulcinjs ist wiederum muslimisch, was die Stadt zu einem attraktiven Ort für türkische Kulturdiplomaten macht, die schwerpunktmäßig muslimisch-osmanische Kulturgüter pflegen und renovieren.

Empfang in der Skupština Opštine

Doch zunächst hatten wir die Ehre, im Gebäude der „Skupština Opštine“ empfangen zu werden. Die „Skupština Opštine“ bedeutet auf Deutsch „Parlament der Gemeinde“, ist aber gleichzeitig der zentrale Verwaltungssitz und damit auch mit einem Berliner Bürgeramt vergleichbar; wie alle anderen öffentlichen Beschriftungen ist auch die „Opština“ zweisprachig beschriftet — auf Jezik* mit „Opština“ und auf Albanisch mit „Komuna“. Der polyglotte Präsident der Komuna/Opština, Ilir Çapuni, hat uns dort höchstpersönlich begrüßt – und zwar auf Englisch, das er während seines Studienaufenthalts an der amerikanischen Ostküste perfektionieren konnte. Neben ihm sind der Vorsitzende des albanischen Forums und der lokale Mufti anwesend, sowie ein Übersetzer. Durch ein Missverständnis war der Übersetzer — vorgesehen war Übersetzung ins Englische — allerdings ein Übersetzer aus dem Albanischen ins Deutsche. Da die meisten bosnischen, serbischen und montenegrinischen TeilnehmerInnen unseres Workshops Deutsch nicht verstehen konnten, sprang der ausgesprochen smarte und diplomatische, perfekt dreisprachige Präsident zuvorkommenderweise auch noch als Übersetzer für unsere Exkursion ein.

Ein großes Problem für Ulcinj, so Ilir Çapuni, stelle zusammen mit der geringen Geburtenrate und der hohen Arbeitslosigkeit die Abwanderung von jungen Menschen dar. Gefragt nach den Wanderzielen sind sich alle einig, dass die USA auf Platz eins rangieren — gefolgt von westeuropäischen Staaten wie Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Allerdings, so Ilir Çapuni, gebe es seit einigen Jahren einen neuen Trend in der Migration zu Studienzwecken: immer mehr Studierende wählten türkische Universitäten zur Ausbildung. Darunter befänden sich vor allem angesehene Universitäten wie die Middle East Technical University (METU/ODTÜ, Ankara) oder Yıldız Teknik (YTÜ, Istanbul). Diese Universitäten gehören zu den Kaderschmieden des Landes (insbesondere ODTÜ) und reihen sich zusammen mit der staatlichen Bosporus-Universität (Boğaziçi), der französischsprachigen Galatasaray-Universität, sowie neueren privaten Universitäten wie Koç, Sabancı oder Bilgi (u.a.) in die Kategorie der englischsprachigen (bzw. französischsprachigen) Eliteuniversitäten ein. Die Zahl der privaten Universitäten, die in der Türkei Vakıf Üniversiteleri („Stiftungsuniversitäten“) genannt werden, hat in den letzten zwei Jahrzehnten einen rasanten Wachstum erlebt, allerdings gehören diese nicht automatisch zu den angesehenen Universitäten mit hohen Qualitätsstandards.

Wie ich auch anderswo auf dem Balkan immer wieder feststellen konnte (besonders in Bosnien-Herzegowina), ist die erhöhte akademische Mobilität ein wichtiger Aspekt türkischer Kulturdiplomatie: mit ihren Mobilitätsprogrammen wie Türkiye Bursları, Mevlana und anderen hat die Türkei ein Pendant zu den europäischen Erasmus, Erasmus Mundus und Erasmus+ Programmen geschaffen, über die sie Studierende und Forscher vornehmlich aus der „postosmanischen“ Einflussphäre anzieht, und dabei gleichzeitig das Erlernen der türkischen Sprache fördert. Auch eine der Teilnehmerinnen unseres Workshops war zum Zeitpunkt unserer Exkursion Stipendiatin eines solchen Programmes. Während ihres dreijährigen Türkeiaufenthalts hat sie die türkische Sprache erlernt, so dass sie sich inzwischen auf das Verfassen ihrer Dissertation auf Türkisch vorbereitet. Es muss hinzugefügt werden, dass die wenigsten der mir bekannten Studierenden vom Balkan an einer der oben genannten, englischsprachigen Leuchtturmuniversitäten gelandet sind, wo sie nicht zwingend Türkisch lernen müssten. Die türkische Hochschullandschaft, die seit 2016 staatlicherseits starken Eingriffen und Umbaumaßnahmen ausgesetzt ist, ist von extremer Ungleichheit charakterisiert. An den meisten staatlichen Universitäten ist die Lehrsprache Türkisch, was aus deutscher Perspektive alles andere als verwundern kann, aber mit der traditionellen Englisch- und Französischsprachigkeit der Kaderschmieden kontrastiert. Ich konnte mir durch meinen eigenen einjährigen Aufenthalt an der staatlichen Istanbul-Universität 2006/7, durch zahlreiche weitere Besuche und Forschungsaufenthalte an privaten Eliteuniversitäten wie Sabancı und Bilgi, sowie durch meine frühere Arbeit als Referent einer Berliner Universität und meine Tätigkeit im Bereich deutsch-türkische Wissenschaftsbeziehungen ein ausführliches Bild von diesen Unterschieden machen.

Beispiele osmanischer Raumaufwertung in Ulcinj

Betrachtet man die Tätigkeit türkischer Kulturdiplomaten unter dem Aspekt der Herstellung von Raum oder Raumproduktion (in Anlehnung an Henri Lefebvres Production de l’espace), so könnte man sowohl bauliche als auch narrativ-mediale Tätigkeiten beschreiben. In dieser Hinsicht ist der kulturelle Einfluss der Türkei besonders in den Medien zu beobachten, wie etwa in den weit verbreiteten und ausgesprochen beliebten türkischen TV-Serien, über die schon sehr viel geschrieben worden ist. Die Serienaffinität balkanischer Schwiegermütter, Kinder, Großeltern, ja Ehemänner, die sich durch Serien wie Suleyman der Prächtige (Sulejman Veličanstveni / Muhteşem Yüzyıl) nun genauestens über die osmanische Vergangenheit informiert wähnen, ist inzwischen zu einem allgemein verbreiteten Klischee zwischen Zagreb und Skopje geworden. Unerwähnt bleiben hier die zahlreichen weiteren Serien, die entweder in der osmanischen Zeit oder in zeitgenössischen Mittelklassekontexten in Istanbul spielen. Von den Internetportalen Monteislam und Crnagoraturska, die hier beispielhalft für die zahlreichen und wirkmächtigen Online Social Networks (OSN) und neuen Medien stehen, wird noch die Rede sein. (Weiter nach den Bildbeispielen)

Ein Spaziergang durch Ulcinj zeigt, dass viele der Kulturdenkmäler Ulcinjs aus der osmanischen Zeit datieren, wie etwa das Gebäude des Stadtmuseums in der burgähnlich bewehrten Altstadt (Kalaja e Ulqinit / Stari Grad Ulcinj). Das von einem Erdbeben beschädigte Minarett des Gebäudes bezeugt, dass es zuvor eine Moschee war, die wiederum zuvor eine Kirche war, wie unschwer an der Architektur und der christlichen Symbolik und den Inschriften zu erkennen ist. Auf diese und ähnliche osmanischen Kulturdenkmäler beziehen sich türkische Kulturdiplomaten auch in Ulcinj, indem sie sanierend und wiederaufbauend an ihnen tätig werden. Mit Ausnahme einer Fabrik zur Herstellung von Olivenöl ist die türkische Kulturdiplomatie in Ulcinj hauptsächlich im kulturellen Bereich aktiv.

Bereits 2014 berichtet das Online-Portal Ul.Info, dass mit Hilfe von TİKA mehrere islamische Kulturdenkmäler in Ulcinj renoviert wurden. Zum einen geht es um das Mausoleum (Turbe) der Familie Pulti/Pultić, das wir bereits auf unserem Weg zur Komuna/Opština besichtigen konnten. Eine dreisprachig Türkisch, Albanisch und Montenegrinisch beschriftete, massive Marmorplatte am Grabmal erinnert daran, dass TİKA und damit die Türkei hinter der Renovierung steht. Laut Beschriftung auf der Platte untersteht TİKA dem türkischen Ministerpräsidialamt; nachdem durch die jüngste Vereidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum Präsidenten der Republik Türkei das Ministerpräsidialamt abgeschafft worden ist, ist es freilich fraglich, ob diese Marmorplatte in dieser Form von Bestand sein wird oder ausgewechselt werden wird.

All diese Denkmäler nehmen direkten Bezug auf die geteilte osmanische Vergangenheit der Türkei und Ulcinjs, so dass diese „Hilfsmaßnahmen“ für die Stadt Ulcinj auch gleichzeitig eine Arbeit an der Aufwertung der „eigenen“ Vergangenheit darstellen. Arbeit an der osmanischen Vergangenheit wird von türkischen Kulturdiplomaten oft zweierlei dargestellt: einerseits als Hilfe, andererseits aber auch als Arbeit am „Eigenen“ — wenn zum Beispiel über die TİKA-Renovierungen berichtet wird, diese aber als Ausdruck des „Besitz antretenden Schützens“ (sahip çıkmak) bezeichnet werden. So schreibt TİKA auf der eigenen Homepage: Türkiye Balkanlar’daki Osmanlı Yadigârı Eserlere Sahip Çıkıyor – Die Türkei tritt den Besitz (beschützt) der osmanischen Erinnerungswerke auf dem Balkan an.

In unmittelbarer Nachbarschaft des Pultić/Pulti-Mausoleums hat sich TİKA, zusammen mit Polish Aid, durch eine weitere Hilfsaktion in den mehrsprachigen Schilderwald Ulcinjs eingeschrieben: das Centar za djecu sa smetnjama (Zentrum für Kinder mit Handicaps) wurde durch TİKA „adaptiert“ und ausgestattet. Weiterhin wird in den Medien über die Renovierung der Namazđah-Moschee durch TİKA berichtet, die wir nicht besucht haben. Außerdem hat sich TİKA der Renovierung des Hammams und weiterer Bauobjekte im Bereich der Altstadt angenommen.

Islam, Verwandtschaft und Zivilisationsarbeit zwischen Montenegro und Anatolien

Diese Beispiele aus Ulcinj illustrieren, dass die balkanisch-türkische Kuturdiplomatie auf drei Hauptfaktoren fußt, wie ich hier durch einige weitere Beispiele und Hintergrundinformationen genauer charakterisieren will.

Erstens bildet das Thema der gemeinsamen Religion, des sunnitischen Islams, ganz klar das „Grundsubstrat“ der türkischen Kulturpolitik im Ausland und des Zurücksprechens balkanischer Muslime. Davon zeugen die zahlreichen Renovierungen und Neubauten von Moscheen, Medressen und Derwischklöster, die häufig in großen und öffentlichkeitswirksamen Zeremonien unter Anwesenheit hochrangiger türkischer und einheimischer Politiker und Geistlicher abgeschlossen werden, wie etwa bei der Vollendung des Wiederaufbaus der im Krieg von serbischen Kriegsverbrechern zerstörten Ferhadija-Moschee im bosnischen Banja Luka im Jahr 2016. Auch in Reden insbesondere türkischer Kulturdiplomaten werden fast immer religiöse und/oder islamistische Bezüge hergestellt — wenn etwa Sarajevo mit Kairo, Jerusalem oder Gaza verglichen wird, wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seiner Anhängerschaft mit dem vierfingrigen R4bia-Gruß winkt, oder wenn er sich selbst mit dem Propheten Muhammad vergleicht, der ebenso wie er selbst in der misslungenen Putschnacht am 15.7.2016 verfolgt worden sei.

Über religiös eingefärbte Themen wird auf dem Balkan in aller Ausführlichkeit berichtet, wobei die Medien häufig auf die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı mit ihren lokalen Niederlassungen wie in Sarajevo als Nachrichtenquelle zurückgreifen. Andererseits gibt es Zeitungen wie Stav und Faktor in Bosnien, die durch die undurchsichtige, türkisch-bosnische Mediengruppe Simurg finanziert werden, und minutiös und im Sinne der türkischen Regierung über die Türkei und die bosniakisch-balkanisch-türkische Zusammengehörigkeit berichten. Daneben gibt es in großer Zahl Internetportale, etwa im montenegrinischen Fall crnagoraturska.com, wo über zahlreiche und häufiger werdende, religiös verbrämte populäre Veranstaltungen berichtet wird.

Im Fastenmonat Ramadan haben sich in den letzten Jahren beispielsweise die öffentlichen und kostenlosen Iftar-Abendessen zum allabendlichen Fastenbrechen zu einem Massenphänomen ausgeweitet. Über ein solches Iftar in der Mehmed Fatih Medresse, wo eine der Teilnehmerinnen unseres Workshops als Jezik*-Lehrerin arbeitet, hat crnagoraturska.com dieses Jahr berichtet. Diese gemeinsamen Abendessen werden von türkischen Akteuren aus dem direkten Umfeld der AKP spendiert und können, wie im nordmontenegrinischen Rožaje (im Sandžak), solche Ausmaße annehmen, dass die ganze Stadt auf den Straßen zusammenzukommen scheint. Die Bilder eines weiteren Berichts auf crnagoraturska.com zeigen die für den Verkehr gesperrte einzige Hauptstraße des in einem engen Tal gelegenen Rožajes, wo eine große Menschenmenge sitzt und gemeinsam zu Abend isst.

Unter dem Motto „Bruderschaft kennt keine Grenzen“ hat sich der AKP-dominierte Istanbuler Bezirk Bayrampaşa seit 2005 mit diesen wachsenden Iftar-Veranstaltungen zwischen Thrakien und Kroatien besonders hervorgetan und dürfte zur Etablierung dieser neuen Tradition erheblich beigtragen haben: unter großem logistischen Aufwand bricht jährlich ein LKW-Konvoi, der sogenannte „Bereket Konvoyu“ (Bereket oder arabisch Baraka bedeutet in etwa „Segen“), von Istanbul aus mit weißen Plastikstühlen, Klapptischen, Geschirr und mobiler Küche auf und fährt unterwegs muslimisch besiedelte Ortschaften an, wo zum gemeinsamen Fastenbrechen eingeladen wird. Darüber berichten montenegrinische und türkische Medien gleichermaßen, wie in aller Ausführlichkeit auf dem staatlichen türkischen TRT-Ableger TRT Avaz mit 18 Minuten Länge in einem Beitrag über ein Open Air Iftar in der montenegrinischen Kleinstadt Gusinje.

Weiterhin ist es zu einer neuen und inzwischen etablierten Mode geworden, dass türkische Akteure aus dem Regierungsumfeld massenhafte und kostengünstige Beschneidungszeremonien ausrichten. So berichtet das Nachrichtenportal monteislam.com darüber, dass TİKA, das türkische Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination, zusammen mit der Islamischen Gemeinschaft Montenegros (Islamska Zajednica u Crnoj Gori) eine kollektive Beschneidung in der ebenso von TİKA aufgebauten Medresse Mehmed Fatih in Podgorica ausrichtet.

Zweitens berufen sich sowohl die balkanischen als auch die türkischen Akteure der Kulturdiplomatie in ihrem Hin- und Hersprechen auf figurative und leibliche Verwandtschaft, wobei sich letztere den bestehenden Verwandtschaftsnetzwerken verdankt, die durch frühere Vertreibungen und Auswanderungen vom Balkan in die Türkei entstanden sind. Im Fall Montenegros dauerten die Auswanderungen in die Türkei bis in die 1970er Jahre an, wie der montenegrinische Historiker und Workshopteilnehmer Šerbo Rastoder im Laufe des Workshops mehrfach betont hat. Die immer wieder bemühte figurative Trope der Verwandtschaft als Bruderschaft (kardeşlik/bratstvo) tauchte bereits im Titel der Iftar-Aktion auf, und auch den Beschneidungen und der Rolle des Beschneiders für den Beschnittenen kommt ein Platz in der Familienkosmologie zu — auch wenn es gerade im Bereich der Verwandtschaft kein einheitliches Rollenverständnis zwischen dem Balkan und Anatolien gibt, wie ich in anderen Beiträgen thematisiert habe.

Drittens — und damit zusammenhängend — wird in der balkanisch-türkischen Kulturdiplomatie das kulturell-zivilisatorische Erbe der gemeinsamen osmanischen Vergangenheit explizit gewertschätzt und der geringen Prestigeträchtigkeit alles „Osmanischen“ oder „Türkischen“ in den vorangegangenen Jahrzehnten gegenüber gestellt. In der osmanischen Epoche gehörten die Gebiete zwischen der heutigen Türkei und dem heutigen Bosnien-Herzegowina (einschließlich Montenegros) einem gemeinsamen Staat an, wodurch zahlreiche Ähnlichkeiten in den kulturellen Hinterlassenschaften zurückzuführen sind. Auf dieses osmanische „Erbe“ — erneut taucht hier die Verwandtschaftstrope auf — berufen sich türkische Akteure in der Politik, im Kulturbetrieb und in den Medien seit der Öffnung des Landes gegen Ende der 1980er Jahre, aber inbesondere seit der geopolitischen Wende der frühen 1990er Jahre und dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002. Besonders türkische Kulturarbeiter von Institutionen wie TİKA oder der neu gegründeten Yunus Emre Kulturinstitute sind in diesem Bereich tätig, indem sie in allen Hauptstädten des Balkans wie Podgorica, aber auch in weiteren Städten wie dem bosnischen Fojnica und Mostar Yunus Emre Institute errichten, wo oft kostenlose Osmanisch- und vor allem Türkischkurse angeboten werden. Die Yunus Emre Institute organisieren aber auch erfolgreiche Kampagnen wie „Ich wähle Türkisch“ (Moj izbor je Turski / Tercihim Türkçe), die Türkisch als Unterrichtsfach in den Schulkurrikula muslimisch besiedelter Gebiete etablieren konnten. Daneben gibt es zahlreiche weitere Institutionen und Organisationen, die zum Zweck der Kulturdiplomatie allesamt neu gegründet wurden, wie das Präsidium für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (Yurtdışı Türkler ve Akraba Topluluklar Başkanlığı), in dessen Namen wir erneut der omnipräsenten Verwandtschaftstrope begegnen.

Die Kulturarbeit drückt sich aber nicht nur durch kulturelle Praktiken wie Sprachunterricht, sondern auch im Schreiben über Kultur aus. Der Zweck dieser Textproduktionen türkischer Kulturdiplomaten, an der sich auch lokale und internationale Wissenschaftler beteiligen, wird manchmal sehr explizit benannt, wie im Fall der voluminösen und mehrsprachigen „Prestige Werke“ unter den Titeln Islam auf dem Balkan (Balkanlarda İslam) unter der Herausgeberschaft von Muhammet Savaş Kafkasyalı (vierbändig) und Architectural Heritage of Ulcinj (Graditeljsko nasljeđe Ulcinja) von der Autorin Igbala Šabović-Kerović. Diese und zahlreiche weitere Prestige-Werke sind unter der Kategorie Prestij Eserler auf der Homepage von TİKA herunterladbar, oft mehrsprachig und sollen die einst abgewertete osmanische Zivilisation aufwerten.

Wie unsere Workshopteilnehmerin Marija Mandić aus Berlin/Belgrad in ihrem Beitrag demonstriert hat, hat sich das negative Image des „Türkischen“ und „Osmanischen“ in der Alltagssprache in Form von Redewendungen, Allgemeinplätzen und Klischees festgesetzt. Gegen Redewendungen wie proći pored turskog groblja — wörtlich: an einem türkischen Grab vorbei gehen — sprechen diese Kulturdiplomaten an. An einem türkischen Grab vorbei gehen ist einerseits eine Bezugnahme auf den im Gegensatz zu den orthodoxen und katholischen Christen des Balkans schwach ausgeprägten islamischen Totenkult, wie ihn die einfachen, weißen muslimischen Grabsteine auf sich weitestgehend selbst überlassenen Wiesen ohne Blumenschmuck und ohne die auf christlichen Gräbern so häufigen Fotografien der Verstorbenen symbolisieren; im übertragenen Sinn bedeutet an einem türkischen Grab vorbei gehen, eine bestimmte Sache oder ein Thema als „absolut irrelevant“ und „nicht weiter der Rede wert“ abzuwerten. Aus Sicht christlich dominierter Nationalisten, aber auch in der sozialistischen Periode, wurde die osmanische Periode fast ausschließlich als eine Zeit der Finsternis und des „türkischen Jochs“ dargestellt. Wer heute an einem türkischen Grab vorbeigeht, so wie in Ulcinj, aber auch an zahlreichen anderen Orten, wo man diese Redewendung kennt und verwendet, wird heute von einer Prestigetafel von TİKA oder anderen Restaurateuren daran erinnert, dass es sich bei dem Grabmal um ein wertgeschätztes Kulturgut handelt.

Hinsichtlich des Totenkults wäre noch festzustellen, dass man gar nicht ohne weiteres allgemeingültig feststellen kann – wie es uns der Museumsleiter in der Altstadt erzählt hat – dass die islamische Vorstellung des Umzugs der oder des Verstorbenen vom Dunjaluk ins Ahiret immer zur Folge hat, dass muslimische Gräber sich selbst überlassen blieben, und dass es im Gegensatz zum Christentum gar keinen Totenkult gäbe. Zwar ist es richtig, dass der Totenkult bei vielen orthodoxen Christen weit ausgeprägter und anderer Art ist – wenn etwa am Gedenktag des Verstorbenen Bohnen und Schnaps am Grab verzehrt werden, und es sogar zu regelrechten Feiern kommen kann; Die zahlreichen Turbe (auf Türkisch Türbe), ob auf dem Balkan oder etwa im Istanbuler Stadtteil Eyüp, wo Gräber zu Fürbitten aufgesucht werden, zeugen allerdings davon, dass es unter Muslimen des Balkans und der Türkei dennoch einen Totenkult gibt. Hinsichtlich der Turbe hängt er vom sozialen Status und den Leistungen des Geehrten ab – wie etwa die Eroberung eines Gebietes, die Gründung einer Stadt o.ä. Zudem hat der Totenkult auf einer breiteren Ebene, vor allem in Bosnien-Herzegowina durch den Bosnienkrieg und die vielen ermordeten muslimischen Zivilisten, eine substantielle Veränderung erfahren. Auch an den šehitluks und großen Kriegsgräbern Bosniens, wie etwa in der jahrelang belagerten Stadt Sarajevo oder am Ort des Srebrenica-Genozids in Potočari, wird man heute kaum mehr vorbei gehen, ohne sich des Grunds ihrer Existenz an ungewöhnlichen Orten zu entsinnen.

Wie durch diese letzten Beispiele schon klar wird, ist die kulturdiplomatische Aufwertungsarbeit im ehemaligen Jugoslawien ohne ein tieferes Verständnis der Kriege der 1990er und frühen 2000er Jahre nicht möglich, und insofern ist der Kontext spezifisch. Dass die frühere, ausschließlich negative Interpretation der osmanischen Zeit aber nicht auf das ehemalige Jugoslawien beschränkt war 8und teilweise immer noch ist), demonstrierte auch unsere Workshopteilnehmerin Rumjana Slodička aus Berlin, die sich in ihrer Masterarbeit mit dem sogenannten Batak-Skandal beschäftigt hat — einem ausgesprochen antiosmanischen Gründungsmythos der bulgarischen Nation. Es ließen sich freilich zahlreiche weitere Belege und Beispiele finden.

Die Logik der Raumaufwertung im diskursiven Hin- und Herrennen zwischen der Türkei und dem Balkan

Wie die Exkursion nach Ulcinj und der Workshop „Discursive inclusion and exclusion of Muslims in the Balkans“ in Podgorica noch einmal verdeutlichen konnten, ist die Frage der Positionalität von Muslimen im öffentlichen Diskurs auf dem sogenannten „Westlichen Balkan“ ein komplexes, vielschichtiges und ambivalentes Thema. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass sich dieses Diskursfeld in der Gegenwart weniger denn je auf den „eigentlichen“ geographischen Raum des Balkans begrenzen lässt. Akteure wie TİKA zeigen, dass Akteure aus der Türkei und aus anderen Ländern in eine solche Betrachtung mit einbezogen werden müssen.

Die TİKA-Sanierungen und Renovierungen, die zu einer mehr als nur symbolischen Aufwertung der osmanischen Vergangenheit beitragen, werden von weiten Teilen der muslimischen Öffentlichkeit begrüßt, was sich auch in der Reaktion eines Workshopteilnehmers auf meinen eigenen Vortrag über Kulturdiplomatie geäußert hat: obwohl ich die Tätigkeiten nicht bewertend dargestellt habe, wurde allein die Thematisierung bereits als eine Art Skandalisierung empfunden, um den „westlichen Forscher“ sogleich darauf aufmerksam zu machen, wie berechtigt und historisch begründet das türkische Engagement auf dem Balkan sei. Man versteht diese „Wertschätzung der Aufwertung“ besser, wenn man bedenkt, wie tief das Trauma der Zerstörungen, Vertreibungen und schieren Gewalt- und Unsicherheitserfahrung unter Muslimen des Balkans sitzt: in der abschließenden Keynote lecture von Šerbo Rastoder wurden noch einmal die Ausmaße der Zerstörungen von Kulturgütern aus der osmanischen Zeit sichtbar.

Diese Zerstörungen beschränken sich jedoch nicht auf Bauwerke, sondern gingen oft mit Massakern und Vertreibungen einher, wie im Fall der montenegrinischen Gemeinde Šahovići 1924, als es zu großen Massakern und Vertreibungen der kompletten muslimischen Bevölkerung gekommen war. Die bereits genannten Kriege der 1990er und 2000er Jahre, und insbesondere der Krieg in Bosnien-Herzegowina, stellen eine Aktualisierung des „demographic engineering“ der nationalistischen Ära dar. „Demographic Engineering“ sollte hier keinesfalls als Euphemismus missverstanden werden: damit gemeint sind sowohl Formen extremer Gewalt wie Genozid und sogenannte „ethnische Säuberungen“, die meistens im Ausnahmezustand des Krieges stattfanden, als auch indirektere und subtilere Gewaltformen wie diskriminierende und assimilatorische Maßnahmen. Die negativen Stereotype und Gemeinplätze über „Türken“ und Muslime (gemeint sind mit Türken oft vermittels Poturice, den „Vertürkten“, konvertierte slawophone und andere „Autochthone“) müssen in diesem Kontext dechiffriert werden, wie es etwa mein Lehrer Holm Sundhaussen – auch gegen große Widerstände, insbesondere in Serbien – getan hat.

Andererseits ist das türkische Engagement aber auch umstritten, und zwar nicht nur unter Nichtmuslimen. Teilweise, wenn auch selten, äußert sich die Ablehnung des türkischen Engagements sogar in symbolischer Gewalt, wie im Fall serbisch-nationalistischer Beschädigungen einer türkischen Prestigetafel. Das untere Bild zeigt eine der Prestige erzeugen wollenden TİKA — Gedenktafeln in Podgorica, wie sie sich inzwischen zahlreich auf dem ganzen Balkan finden. Sie erinnert die Öffentlichkeit daran, dass TİKA den Bećir-beg Osmanagić-Platz und den Uhrturm (Sahat Kula) im kleinen Restbestand von Altstadt in Podgorica renoviert hat. Der Uhrturm ist neben wenigen Moscheen und den alten Gebäuden der Stadtteile Stara Varoš und Drač nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und Erbebenschäden eines der wenigen verbliebenen Bauzeugnisse aus der osmanischen Zeit. Wie in einem Nachrichtenbeitrag auf Radio Slobodna Evropa nachzulesen ist, war im vergangenen Jahr eine Kontroverse ausgebrochen, nachdem das eiserne Kreuz, das sich seit langem auf der Spitze des Uhrturms befand, im Rahmen der Renovierungsarbeiten zu Restaurierungszwecken vorübergehend abgenommen worden war. Die einen wollten im demontierten Kreuz absurderweise ein „eisernes Element“ erkennen, das gar kein Kreuz sei; aus Sicht von Vertretern der serbisch-orthodoxen Kirche und der Islamischen Gemeinschaft handelte es sich dabei aber klar um ein Kreuz, wie in dem Beitritt auch der Historiker Miloš Vukanović zitiert wird. Während die Islamische Gemeinschaft gegen eine Wiederherstellung des Kreuzes auf dem osmanischen Uhrturm argumentiert hat, sprach sich die orthodoxe Seite dafür aus. Im oben dargestellten Kontext diskursiver und symbolischer Gewalt – hier freilich nicht erschöpfend ausgeführt – sollten die Versuche, die türkische Flagge auf der Ruhmestafel zu beschädigen und die Einritzung der vier kyrillischen Buchstaben S (als emblematische Abkürzung des Leitsatzes des serbischen Nationalismus Samo Sloga Srbina Spasava), geteilt durch ein Kreuz, interpretiert werden.

Anmerkung: Der Text wurde zuvor auf der Homepage Dunyalook des Autors veröffentlicht. Thomas Schad beschäftigt sich in seiner Dissertation mit bosniakisch-türkischer Kulturdiplomatie, die am Lehrstuhl für Südosteuropäische Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) entsteht.